PTJ_1_2024_online

■■Übersichtsartikel zur ICD-11: Veränderungen und Trends ■■Vorgehen bei Verdacht auf Kindeswohl- gefährdung ■■Gewalt in Paarbeziehungen erkennen und Betroffene unterstützen ■■Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik: Neuerungen zum 30. Jubiläum ■■Denkanstoß zu extremistischen Ansichten bei Patient*innen ■■Triggerwarnungen: Hilfreich, wirkungslos – oder sogar schädlich? Psychotherapeuten journal www.psychotherapeutenjournal.de | ISSN 1611-0773 | D 60843 | 23. Jahrgang | 18. März 2024 PTJ 1/2024 (S. 1–116)

Geschlechtersensible Sprache Das Psychotherapeutenjournal empfiehlt im Sinne eines geschlechtersensiblen Sprachgebrauchs für die Bezeichnung von Personen oder Gruppen, die nicht eindeutig männlich oder weiblich sind, die Verwendung des sog. Gendersternchens (z. B. „Psychotherapeut*innen“, „ein*e Psychotherapeut*in“), sofern es keine sprachlich etablierte geschlechtsneutrale Formulierung gibt. Alternativ besteht die Möglichkeit, texteinheitlich die Paarschreibweise mit männlicher und weiblicher Form (z. B. „Psychotherapeutinnen und -therapeuten“, „eine Psychotherapeutin oder ein Psychotherapeut“) heranzuziehen. Bitte beachten Sie, dass auch in diesem Fall Personen mit non-binärer Geschlechtsidentität immer ausdrücklich mitgemeint und angesprochen sind. Zur Begründung dieser Sprachregelung lesen Sie bitte das Editorial in Ausgabe 4/2021.

Liebe Kolleg*innen, Editorial in dieser Ausgabe des PTJ finden Sie wieder ein Sie hoffentlich ansprechendes Neben- und Miteinander von sehr unterschiedlichen Themen. Einerseits beschäftigen sich Alex Hartig mit einer Übersicht zu Veränderungen in der ICD-Systematik und Cord Benecke mit der Vorstellung von Neuerungen in der OPD-3 mit wichtigen Weiterentwicklungen in der Diagnostik. Die Ausführungen von Hartig zur ICDSystematik sind besonders zu beachten aufgrund der Verbindlichkeit der Codierung für fast alle unter Ihnen. Beide Texte verdeutlichen jedoch, mit welcher Intensität die Forschung in diesem Bereich voranschreitet und wie diese Weiterentwicklungen in der Diagnostik hilfreich für Praktiker*innen sein können. Ein Feld von ganz andersartiger und hoher Relevanz bearbeiten Thea Rau und Kolleg*innen in ihrem Beitrag. Sie nehmen ein leider sehr aktuelles Thema aus dem vorangegangenen Heft des PTJ wieder auf und diskutieren mögliche Strategien im Umgang mit extremistischen Ansichten bei Patient*innen in der Praxis. Sie bearbeiten damit eine Thematik, die aktuell sprichwörtlich „auf der Straße“ liegt und allwöchentlich Hunderttausende, die sonst nicht so engagiert und zahlreich an Demonstrationen teilnehmen, dazu bewegt, sich auf der Straße zu äußern. Aber auch im Behandlungsraum erleben wir die Vielfalt der Meinungen und Einstellungen und dabei auch Patient*innen mit sehr radikalem bis extremistischem Denken, das über das Phantasieren hinausgeht und manchmal auch zum Handeln drängt. Als Psychotherapeut*innen sind wir in solchen Situationen einerseits gefordert, weiterhin das Gebot der Abstinenz zu befolgen, und uns andererseits professionell als glaubhaftes und integres Gegenüber zur Verfügung zu stellen. Nicht zu vergessen: Auch innerhalb der Psychotherapeut*innenschaft muss der Umgang mit extremistischen Haltungen ein Thema sein – leider eines, das uns alle nicht so bald verlassen wird! Gerade an dieser Stelle soll nochmals auf die Diskussion, die Birsen Kahraman mit ihrer kritischen Frage nach einer nachhaltigen Rassismuskritik in der Psychotherapie-Profession im letzten Heft aufgemacht hat, Bezug genommen werden. Wir waren im Redaktionsbeirat sehr erfreut und bewegt über die vielen Zuschriften zu diesem Artikel; in der übergroßen Mehrheit wurde die Veröffentlichung begrüßt, auch und gerade von selbst betroffenen Kolleg*innen! Berichtet wurde auch vom Gefühl einer „unangenehmen, aber notwendigen Zumutung“ beim Lesen. Tatsächlich konfrontiert uns der Text ja auch mit dem erforderlichen Hinterfragen eigener gängiger Selbstidealisierungen als aufgeklärte und liberale Bürger*innen und Psychotherapeut*innen, denen struktureller Rassismus im Ergebnis ihrer intensiven Ausbildung doch fern sei… Wir hoffen und wünschen uns sehr, diese Diskussion fortsetzen zu können, v. a. aber, dass die Autorin auch ganz praktisch und nachhaltig etwas Gutes und Weiterführendes in der Aus- und Fortbildung sowie in der psychotherapeutischen Arbeit im Alltag in Bewegung bringen kann! Mit anderen Formen von potenzieller und realer psychischer und physischer Gewalt beschäftigen sich Christof Radewagen sowie Hannah M. Micklitz und Kolleg*innen, die sich über den Umgang mit einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung und Überlegungen zur Arbeit mit Patient*innen, die Gewalt in Paarbeziehungen erleben oder erlebt haben, Gedanken machen. Beide Beiträge vermitteln für die oft auf akute Krisensituationen bezogene praktische Arbeit mit Patient*innen oder auch Partner*innen und Familien wichtige und hilfreiche Hinweise und Anregungen. Auch in diesen Themenkreis gehört schließlich die Arbeit von Nathalie Wahlsdorf und Kolleginnen, die den Forschungsstand zum Thema Triggerwarnungen darstellen und sich kritisch Gedanken machen zur möglichen Prophylaxe von Retraumatisierungen. Wie immer seien Ihnen auch die Rezensionen, die sich in diesem Heft ebenfalls mit kritischen Situationen in Psychotherapien, aber auch in unserer Kultur und Gesellschaft beschäftigen, empfohlen! Besonders um Ihre Beachtung bitten wir für den Nachruf auf Dianne L. Chambless, die für sehr viele Angehörige unserer Profession eine große Bedeutung insbesondere für die Psychotherapieforschung zur Verbesserung von Behandlungsansätzen bei Angst- und Zwangsstörungen hatte. Wir wünschen Ihnen eine spannende und Sie bereichernde Lektüre! Anne Springer (Berlin) Mitglied des Redaktionsbeirates 1/2024 Psychotherapeutenjournal 1

Inhalt Originalia Inhalt Alex Hartig ICD-11: Veränderungen und Trends. Eine Übersicht – Teil 1 Zum Einstieg in die zweiteilige Artikelreihe wird kurz auf die Geschichte der ICD eingegangen. Dann werden einige FAQ beantwortet und es werden grundlegende Innovationen (wie die Kapitelstruktur und das Codierungssystem) erläutert. Zudem werden die wesentlichen neuen Diagnosen vorgestellt. Christof Radewagen Vorgehen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung aus der Perspektive von Psychotherapeut*innen und anderen Berufsgeheimnisträger*innen In diesem Beitrag wird die Rolle der in § 4 Abs. 1 KKG genannten Berufsgeheimnisträger*innen (z. B. Psychotherapeut*innen) bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung beleuchtet und ein mögliches fachliches Vorgehen zur Einschätzung und Abwendung einer Kindeswohlgefährdung beschrieben. Schwerpunkte bilden dabei datenschutzrechtliche Aspekte und die Frage der Gewichtung von Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung. Hannah M. Micklitz, Gunda Wössner, Heide Glaesmer & Lasse B. Sander Betroffene von Gewalt in Paarbeziehungen erkennen und unterstützen – Grundlagen für die psychotherapeutische Praxis Gewalt in Paarbeziehungen ist ein weitverbreitetes Problem, welches häufig schwerwiegende Folgen für die psychische Gesundheit von betroffenen Menschen hat. Dieser Artikel vermittelt grundlegendes Wissen und Kompetenzen zum Erkennen von und dem psychotherapeutischen Umgang mit Menschen, die Gewalt in Paarbeziehungen erleben oder erlebt haben. Cord Benecke 30 Jahre Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik – Neuerungen in der OPD-3 Der Artikel stellt die neueste Version der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD-3) mit deren dreißigjähriger Entwicklung und den vier Achsen dar: I. Psychische Störungen, Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen, II. Beziehung, III. Konflikt und IV. Struktur. Dabei sollen die Neuerungen, die Wechselwirkungen zwischen den Achsen, die empirische Fundierung sowie die Breite der Anwendungsfelder beschrieben werden. Thea Rau, Jörg M. Fegert, Christiane Montag, Knut Schnell, Dietrich Munz, Sophia Mayer, Hannah Strauß, Anna-Lena Bröcker, Alexander Gesing, Vera Dittmar & Marc Allroggen Denkanstoß zu extremistischen Ansichten bei Patient*innen In diesem Beitrag werden Denkanstöße für die ärztliche und psychotherapeutische Behandlung im Umgang mit Patient*innen und Angehörigen mit extremistischen Einstellungen diskutiert. Auch wird auf Vernetzungsmöglichkeiten mit Fachberatungsstellen im Themenbereich Extremismus hingewiesen, die Anlaufstellen für Patient*innen und ihnen Nahestehende, aber auch für Fachkräfte selbst sein können. 4 16 24 36 44 Serie 2 Psychotherapeutenjournal 1/2024

Bundespsychothera- peutenkammer Baden-Württemberg Bayern Berlin Bremen Hamburg 92 Hessen 96 Niedersachsen 99 Nordrhein-Westfalen 103 Ostdeutsche Psychotherapeutenkammer 107 Rheinland-Pfalz 111 Saarland 112 Schleswig-Holstein Nachruf Rezensionen 50 57 58 59 60 Mitteilungen der Psychotherapeutenkammern Editorial Leserbriefe und Replik Impressum Psychotherapeutenjournal Stellen- und Praxismarkt des medhochzwei Verlages Impressum Stellen- und Praxismarkt des medhochzwei Verlages 66 70 74 79 83 88 1 62 116 A1 A20 Nathalie Wahlsdorf, Tanja Michael, Johanna Lass-Hennemann & Roxanne Sopp Triggerwarnungen: Hilfreich, wirkungslos – oder sogar schädlich? Um Personen mit traumatischen Erfahrungen vor Reaktionen auf potenziell belastende Inhalte zu schützen, werden in verschiedenen Kontexten sogenannte Triggerwarnungen eingesetzt. Gegenstand dieses Artikels ist die Synthese bisheriger Studienbefunde zu den evtl. sogar ungünstigen Effekten von Triggerwarnungen sowie die Ableitung von Hinweisen für die Praxis. Babette Renneberg Dianne L. Chambless (1948–2023) Epidemie ohne Ansteckungsgefahr bei Kontakt: Einsamkeit und soziale Isolation im Alter Eine Rezension von Hannes Rathjen: Hajek, A., Riedel-Heller, S. G.& König, H.-H. (2023). Loneliness and Social Isolation in Old Age – Correlates and Implications. Hat die Klimakrise einen Platz in der Psychotherapie? Eine Rezension von Tanja Ehrhardt: Pudlatz, M. (2023). Klimaresilienz aufbauen – Was Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten beitragen können. Ein Update genau zur rechten Zeit: Udo Rauchfleischs Ratgeber zum Thema „Transidentität” Eine Rezension von Lars Hauten: Rauchfleisch, U. (2023). Transgender verstehen. Ein Ratgeber für Angehörige, Freund:innen und Kolleg:innen. 1/2024 Psychotherapeutenjournal 3

SERIE: Die neuen Störungsbilder der ICD-11 Eine Übersicht – Teil I Alex Hartig Zusammenfassung: 2022 wurde die ICD-11 für die Implementierung in den Mitgliedsstaaten der WHO freigegeben. Der Umstellungsprozess wird zwar noch Jahre in Anspruch nehmen. Die ICD-11 hat jedoch schon jetzt Relevanz für den klinischen Alltag. Zu den Neuheiten gegenüber der Vorgängerversion gehören u. a. die Option zur vermehrten Nutzung von Specifiern und das dimensionale Modell der Persönlichkeitsstörungen. Im ersten Teil dieser Artikelserie werden die Grundstruktur der ICD-11, die neue Kapitelstruktur und das Codierungssystem erläutert. Ferner werden die wesentlichen neuen Störungsbezeichnungen vorgestellt. dung der Therapeutin und erklärt, auf derartiges Feedback vorbereitet gewesen zu sein. Offensichtlich handele es sich dabei um einen wohlgemeinten Beruhigungsversuch, der die Wirklichkeit in keiner Weise widerspiegele. Auch von nahestehenden Personen bekomme A. J. häufig zu hören, ein hübsches (oder zumindest unauffälliges) Gesicht zu haben. A. J. glaube, diese Personen hätten ebenfalls Beruhigungsabsichten. Treffe A. J. – beispielsweise im öffentlichen Verkehr – auf unbekannte Menschen, komme es hingegen zu starrenden Blicken, unverhohlenem Auslachen und Getuschel. Ein weiteres im Erstgespräch berichtetes Symptom: exzessives Checkingverhalten, das vor allen Dingen aus dem Anfertigen und der Digitalnachbearbeitung von Selfies bestehe und das massive Verzögerungen im Alltagsablauf verursache. Anhand des Fallbeispiels kann eine Revidierung in den ICDVorgaben zur Differentialdiagnostik veranschaulicht werden. Kommt es im Kontext eines körperdysmorphen Störungsbildes zu einer Wahnsymptomatik, soll laut der ICD-10 eine sonstige anhaltende wahnhafte Störung vergeben werden. Die ICD-11 bestimmt ein entgegengesetztes Vorgehen und stützt sich dabei auf neuere wissenschaftliche Erkenntnisse (Stein et al., 2016). Demnach soll bei vorliegender körperdysmorpher Symptomatik die Diagnose einer körperdysmorphen Störung vergeben werden – auch wenn die kognitiven Komponenten des Störungsbildes einen wahnhaften Charakter aufweisen. In der ICD-11 gilt generell: Lässt sich eine wahnhafte Symptomatik besser durch eine Störung aus der Neugruppierung der Obsessive Compulsive and Related Disorders erklären, soll diese (nichtpsychotische) Diagnose bevorzugt werden. Betroffene Personen sollen so vor unbeVorbemerkungen Aktuell, zum Zeitpunkt des Artikelverfassens, liegt keine offizielle, vollständige deutsche Ausgabe der International Classification of Diseases, 11th Revision (ICD-11; World Health Organization, 2019) vor. Da das Vokabular für die finale deutsche Version noch nicht feststeht, wird bei den Störungs- und Gruppierungsbenennungen auf die englischen Originalbezeichnungen zurückgegriffen. In dem Glossar am Textende auf S. 14 werden die Übersetzungen (für die im Artikel verwendeten englischen Originalbegriffe) aufgelistet. Diese Übersetzungen entstammen der nicht endgültigen deutschen Entwurfsfassung der ICD-11. Aufgrund von Umfangsbeschränkungen wird der Beitrag auf zwei Ausgaben des Psychotherapeutenjournals verteilt. Der erste Teil umfasst folgende Inhaltspunkte: Einleitung; Geschichte; Häufige Fragen – FAQ; Innovationen; Neue Störungen und Zwischenfazit. Der zweite Teil in Ausgabe 2/2024 beinhaltet: Weitere Veränderungen innerhalb einzelner Störungsgruppierungen; Gesamtfazit. Einleitung Fallbeispiel: A. J. ist 23 Jahre alt und berichtet im Erstgespräch, unter der Entstellung des eigenen Kinns zu leiden. Auffällig seien die Überproportioniertheit und die merkwürdige Quadratform des Kinns. Zudem rage es in Blickrichtung – wie ein kleiner Ast – aus dem Gesicht hervor. Die Therapeutin merkt an, dass sie die aufgeführten kosmetischen Auffälligkeiten nicht bestätigen könne. Im Gegenteil: Sie blicke in ein Gesicht, das von einer harmonischen Physiognomie geprägt sei. A. J. bedankt sich für die Rückmel4 Psychotherapeutenjournal 1/2024

gründeten antipsychotischen Behandlungen geschützt werden (Reed et al., 2019).1 Der aus dem Fallbeispiel abgeleitete Unterschied zwischen den Handlungsvorgaben zeigt: Eine Auseinandersetzung mit der ICD-11 lohnt sich schon deswegen, da die ICD-11 aktuelle Forschungsergebnisse berücksichtigt. Im Kapitel der Mental Behavioral and Neurodevelopmental Disorders (MDBND) hat sich einiges getan: „„ Ein neues Codierungssystem ist installiert worden. „„ Optionen zur vermehrten Nutzung von sog. Specifiern, mit deren Hilfe Symptombilder präziser beschrieben werden können, sind kreiert worden. „„ (Teil)dimensionale Modelle sind eingeführt worden (besonders auffällig: das dimensionale Persönlichkeitsstörungsmodell). „„ Einige „neue Störungen“ sind in das MBND-Kapitel integriert worden. „„ Manche der „alten Störungen“ sind eliminiert, neu zugeordnet, umbenannt oder zu Superdiagnosen zusammengefast worden. „„ Differentialdiagnostische Vorgaben und Störungsbeschreibungen sind aktualisiert worden. In der vorliegenden Artikelserie wird auf jeden der genannten Punkte kursorisch eingegangen. Ziel dabei ist es, einen Überblick über die Anpassungen und Trends im MBND-Kapitel herzustellen. Zum Einstieg werden jedoch zunächst die Entstehungsgeschichte der ICD präsentiert und einige FAQ beantwortet. Geschichte Die historischen Wurzeln der ICD reichen mindestens in das 19. Jahrhundert zurück. William Farr und Marc-Jacob d’Espine erhielten während des Ersten Internationalen Statistischen Kongresses (1853 in Brüssel) den Auftrag, eine global einsetzbare Klassifikation für Todesursachen zu erarbeiten (Clark et al., 2017). Die unterschiedlichen Vorschläge von Farr und d’Espine wurden zu einem Kompromisssystem verwertet, das beim Zweiten Internationalen Statistischen Kongress (1855 in Paris) verabschiedet wurde. 1864 kam es zu einer Überarbeitung im Sinne Farrs: Krankheiten wurden nun anhand ihrer anatomischen Lokalisation klassifiziert. Jacques Bertillon baute das System aus und stellte seine Version 1893 bei der Tagung des Internationalen Statistischen Instituts in Chicago vor. Bertillons International List of Causes of Death (ILCD) (Internationales Todesursachenverzeichnis) erhielt allgemeine Anerkennung (BfArM, o. J. a). Zwischen 1900 und 1935 fanden die ersten fünf Revisionsverfahren der ILCD statt; die Verantwortlichen erkannten die Notwendigkeit, das Todesursachenverzeichnis um eine Morbiditätsklassifikation zu erweitern (Clark et al., 2017). 1948 wurde die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gegründet und mit der sechsten Revision der ILCD beauftragt. Ein Expertiseausschuss wurde bestimmt. Dieser stellte eine Klassifikation vor, die neben den Todes- erstmalig auch die Krankheitsursachen beinhaltete (BfArM, o. J. a). Dadurch wurde eine Umbenennung des Systems erforderlich. Die ICD war geboren und 1948 nahm die WHO die International Classification of Diseases, Injuries, and Causes of Death (ICD-6) offiziell an. Seit 1948 hat kein Revisionsprozess länger gedauert als der aktuelle (Sievers, 2021), an dem mehr als 300 Fachkundige aus mehr als 90 Ländern der Welt beteiligt gewesen sind (Fung et al., 2020; Gaebel & Kerst, 2019). Diese haben – laut Aussage von Ghebreyesus (2018) – über 10.000 Veränderungshinweise verwertet. Da die psychischen Störungen nur einen kleinen Teil der ICD-11 ausmachen, finden sich die meisten Veränderungen außerhalb des MBND-Kapitels. Hier ist beispielsweise neu, dass über 5.500 „Seltene Erkrankungen“ codiert werden können (Feinstein et al., 2023), deutlich mehr als in früheren Ausgaben (Aymé et al., 2015). Auch die Aufnahme von Allergien in das Kapitel der Krankheiten des Immunsystems stellt eine Neuerung dar. Zerebrovaskuläre Erkrankungen (z. B. Schlaganfälle) gehören in der ICD-11 nicht mehr zu den Störungen des Kreislaufsystems, sondern werden als Krankheiten des Nervensystems klassifiziert; hier befinden sich nun auch die Prionenerkrankungen, die zuvor den Infektionskrankheiten zugeordnet waren. Die Infektionskrankheiten werden um Influenza und Pneumonie ergänzt; beide tauchten in der ICD-10 noch bei den Erkrankungen der Atemwege auf.2 Für die Anpassungen im MBND-Kapitel bildete sich 2007 ein Themenbeirat, der eine Betaversion des MBND-Kapitels entwickelte. Diese wurde 2015 veröffentlicht (Gaebel et al., 2020). Eine globale Zusammenarbeit wurde initiiert. Klinisch Tätige wurden dazu eingeladen, die Betaversion zu testen und erste Anwendungserfahrungen zurückzumelden. Zudem wurden primäre Feldstudien zur praktischen Handhabbarkeit und Reliabilität durchgeführt. 2019 wurde die Gesamt-ICD von der WHO final angenommen und online zugängig gemacht. Seit 2022 können die Mitgliedstaaten der WHO mit der Implementierung der neuen Ausgabe beginnen (Pezzella, 2022). Die ICD-11 bleibt ein dynamisches System, das regelmäßig aktualisiert wird (Gaebel, 2021). Häufige Fragen – FAQ Wird die WHO die ICD-11 wie gewohnt in Buchform publizieren? Nein. Aufgrund der Fortschritte in der Gewährleistung globaler Netzerreichbarkeit hat sich die WHO für eine reine OnlineVerfügbarkeit entschieden. Bevorzugungen oder Benachteili1 Zu den hier kursiv ausgewiesenen Kurztiteln finden Sie ausführliche bibliographische Angaben am Ende des Artikels, das vollständige Literaturverzeichnis auf der Homepage der Zeitschrift unter www.psychotherapeutenjournal.de. 2 siehe Sievers (2021) für weitere Veränderungsbeispiele 1/2024 Psychotherapeutenjournal 5 A. Hartig

gungen einzelner Mitgliedstaaten sollen vermieden werden (Ghebreyesus, 2018). Gibt es schon eine deutsche Ausgabe? Ja. Aber nur eine vorläufige. Diese deutschsprachige Entwurfsfassung ist noch nicht vollständig und beruht zum Teil auf automatisierten Übersetzungen (BfArM, o. J. b). Im klinischen Alltag können vorerst das englische Original oder weitere offizielle Übersetzungen angewendet werden. Bisher ist die ICD-11 in folgenden Sprachen veröffentlicht worden: Englisch, Arabisch, Chinesisch, Spanisch, Französisch, Türkisch. Wann wird die ICD-11 die ICD-10 in Deutschland ersetzen? Ein Zieldatum steht nicht fest. Es handelt sich um ein komplexes Umstellungsverfahren. Viele Versorgungsebenen und Gesundheitssystembereiche sind betroffen; exemplarisch können „Abrechnung stationärer und ambulanter Leistungen, morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich, Qualitätssicherung, Epidemiologie und Statistik“ genannt werden (BfArM, o. J. c). Die Einführung wird „noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen“ (BfArM, o. J. d). Des Weiteren wird die fünfjährige „angedachte flexible Übergangszeit“ u. U. überschritten werden (BfArM, o. J. d). Zur Orientierung: Im letzten Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende wurde in Deutschland die ICD-10 implementiert; dieser Prozess dauerte damals ebenfalls Jahre: von 1994 (Beginn der Installationsphase der ICD-10 in den Mitgliedstaaten der WHO) bis 1998 (endgültige Ablösung der ICD-9 in der BRD) (BfArM, o. J. e). Zumindest in der Theorie war es demnach im Jahr 1997 noch möglich, dass Menschen ICD-9-Diagnosen wie Homosexualität oder Hochgradiger Schwachsinn erhielten. Im Rückblick zeigt sich also: Eine frühe Auseinandersetzung mit den Veränderungen, die die jeweilige Revision mit sich bringt, kann vor Falschversorgung schützen. Welchen Nutzen hat es, sich mit der ICD-11 zu beschäftigen, wenn zu Abrechnungszwecken bis auf Weiteres die ICD-10-Codes genutzt werden und die ICD-11 noch nicht auf Deutsch erschienen ist? Die Forschungsnähe bzw. die Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher Entwicklungen sind bereits genannt worden. In der neuen Version tauchen einige etablierte Diagnosen erstmalig auf, die den klinischen Alltag längst prägen – zum Beispiel die Complex Post Traumatic Stress Disorder (Cloitre, 2021) und die Binge Eating Disorder (Citrome, 2021). In den Fließtexten der Psychotherapieanträge, Epikrisen und Entlassberichte, in Intervisionen, Supervisionen und generell im Fachaustausch kann auf die Neudiagnosen zurückgegriffen werden. Für einige dieser Diagnosen liegen Assessmentinstrumente mit hohen Gütewerten vor (Hecker et al., 2018). Auch Behandlungsableitungen sind möglich; beispielsweise existieren Therapiemanuale für die in der ICD-11 aufgeführte Prolonged Grief Disorder (Rosner et al., 2014). Der Einsatz des neuen Systems ist also grundsätzlich möglich; insbesondere bei administrativen Prozessen wie Abrechnungen oder Verordnungen besteht aber eine Bindung an die alte Kodierung. Bleiben die separaten Klassifikationen der psychischen Störungen in der ICD und dem DSM bestehen? In der gemeinsamen Revisionshistorie des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) und der ICD finden sich Phasen mit hoher Übereinstimmung und Verzahnung. Aber auch solche Phasen, in denen eher eine unabhängige Koexistenz herrschte (First et al., 2021). Der höchste Harmoniegrad bestand in der Zeit, als das DSM-II und die ICD-8 die jeweils aktuellen Versionen darstellten (Clark et al., 2017; First et al., 2021). Den damaligen Ausgaben lagen psychoanalytische Theorien zugrunde und sie bestanden aus kurzen Beschreibungen, die die Störungen prototypisch vorstellten (Jewell et al., 2009). 1980 veröffentliche die American Psychiatric Association (APA)3 das DSM-III. Und diese Veröffentlichung wurde zu einem Wendepunkt in der Geschichte psychischer Nosologien. Das DSM-III gilt als das erste empirische System zur Klassifikation psychischer Störungen. Zu den Innovationen des DSM-III zählten: die Multiaxialität, die Kriterienlisten, die klaren Cut-Offs und die genaueren Zeitvorgaben (Jewell et al., 2009; Johnson, 2013). Mit dieser Empirisierung sollte u. a. eine höhere Interrater-Reliabilität erzielt werden. Ätiologiebasierte Diagnosedarstellungen kamen nicht mehr vor. Die WHO passte sich dem neuen Standard erst mit der Publikation der ICD-10 an (American Psychiatric Association, o. J.). Auch wenn zwischen den jeweils aktuellen Ausgaben eine höhere Gesamtübereinstimmung besteht, existieren weiterhin Detailunterschiede (First et al., 2021). Und mit der Abschaffung der kategorialen und kriterienbasierten Konzeption von Persönlichkeitsstörungen weicht die ICD-11 unüblich deutlich vom DSM-5 (American Psychiatric Association, 2013) ab. Die Partikularinteressen der beiden Dachorganisationen bedingen das Parallelbestehen der zwei Systeme. Beispielsweise stellt der weltweite Verkauf des DSM eine Haupteinnahmequelle für die APA dar (Frances, 2015). Zudem hält die APA an der Zielsetzung einer möglichst hohen Reliabilität fest (Hualparuca-Olivera & Palomino, 2023); für sie ist es attraktiv, den Status des Primärtools der Forschung innezuhaben. Die WHO strebt hingegen eine hohe Praktikabilität im klinischen Alltag an (Stein et al., 2020). Und zwar nicht nur für die Gesundheitsversorgungssysteme westlich geprägter und finanzstarker Länder, sondern für jeden Mitgliedsstaat. 3 Sowohl die American Psychiatric Association als auch die American Psychological Association nutzen die Abkürzung APA; bei der Verwendung der Abkürzung APA im vorliegenden Artikel ist – wenn nicht anders gekennzeichnet – die American Psychiatric Association gemeint. 6 Psychotherapeutenjournal 1/2024 ICD-11: Veränderungen und Trends. Eine Übersicht

Die ICD soll alle Krankheiten und verwandte Gesundheitsprobleme umfassen. Das DSM beinhaltet nur die psychischen Diagnosen. Es ist davon auszugehen, dass dieser Unterschied ebenfalls zu der Fortführung der separaten Entwicklungen und Veröffentlichungen beitragen wird. Hin und wieder ertönt der Appel zur Fusionierung (Tyrer, 2014). Aktuell gibt es jedoch keine Anzeichen für einen derartigen Prozess. Die gestiegene Relevanz der ICD (Tyrer, 2014) stärkt die Trennungskontinuität. Laut First et al. (2021) kann daraus aber auch ein Vorteil entstehen, da die unterschiedlichen Konzeptionen von Störungen wissenschaftliche Vergleiche erlauben und so Forschungsfortschritte erzielt werden können. Abzuwarten bleibt, welche Bedeutung andere Systeme erlangen werden. Insbesondere der gesamtdimensionale Ansatz HiTOP (Kotov et al., 2017) ist vielversprechend und im Auge zu behalten. Innovationen (Highlights) Störungsbeschreibungen Die ICD-11 möchte vor allem praktikabel sein und unterscheidet sich hier von der streng empirischen Struktur des DSM, die dort seit der dritten Ausgabe grundlegend ist. Im MBNDKapitel der ICD-11 werden Störungen eher guidelineartig beschrieben. Willkürliche Cut-Offs und eng definierte Zeitvoraussetzungen werden vermieden. Störungsdarstellungen werden weicher formuliert. Zur Veranschaulichung kontrastiert Tabelle 1 die ersten drei Kriterien für eine generalisierte Angststörung (GAS) im DSM-5 mit den ersten drei Kriterien der GAS in der ICD-11. Laut Reed et al. (2019) soll der ICD-11-Ansatz für eine bessere Übereinstimmung zwischen den theoretischen Vorgaben und einer klinischen Realität sorgen, in der diagnostische Entscheidungen häufig flexibel getroffen werden. Auch für kultur- und geschlechterbedingte Symptomvariationen bietet der neue Ansatz mehr Raum. Erste Feldstudien bestätigen die Anwendungsfreundlichkeit; die Reliabilitätswerte scheinen sich nicht zu verschlechtern (Reed et al., 2019). Wichtig: In den Fällen, in denen eine zufriedenstellende empirische Fundierung für harte Marker wie Mindestsymptomanzahl und Symptomdauer existiert, wird daran festgehalten (Reed, 2023); so müssen für die Diagnose einer depressiven Episode fünf von zehn Merkmalen vorhanden sein und eines der Merkmale muss deprimierte Stimmung oder klare Reduktion der Freude bzw. des Interesses an Aktivitäten sein. Specifier Es wird ein Codierungssystem mit einem erweiterten Kombinationsspielraum eingeführt. In der vorherigen Version galt noch die Regel eine Störung = ein Code; die ICD-11 bietet stattdessen die Möglichkeit der Clusterkodierung (Mabon et al., 2021). Mehrere Primärcodes (die auch als stem codes bezeichnet werden) können zu einer Codekette zusammengefasst werden. Und: Primärcodes können mit Erweiterungscodes kombiniert werden (Sievers, 2021). Für das MBND-Kapitel ist besonders das Zusammenspiel aus Stammdiagnosen und Specifiern relevant. Unter Specifier werden Spezifizierungsoptionen verstanden, mit deren Hilfe Störungsrealitäten individueller beschrieben werden können. Dieses Prinzip ist grundsätzlich nicht neu. Zum Beispiel konnte bereits in der ICD-10 die Diagnose einer depressiven Episode um eine Nachkommastelle ergänzt werden, mit der das Vorliegen DSM-5 ICD-11 A. Excessive anxiety and worry (apprehensive expectation), occurring more days than not for at least 6 months, about a number of events or activities (such as work or school performance). B. The individual finds it difficult to control the worry. C. The anxiety and worry are associated with three (or more) of the following six symptoms: Note: Only one item is required in children. 1. Restlessness or feeling keyed up or on edge. 2. Being easily fatigued. 3. Difficulty concentrating or mind going blank. 4. Irritability. 5. Muscle tension. 6. Sleep disturbance (difficulty falling or staying asleep, or restless, unsatisfying sleep). Marked symptoms of anxiety manifested by either: „„ General apprehensiveness that is not restricted to any particular environmental circumstance (i. e. „free-floating anxiety“); or „„ Excessive worry (apprehensive expectation) about negative events occurring in several different aspects of everyday life (e. g., work, finances, health, family). Anxiety and general apprehensiveness or worry are accompanied by additional characteristic symptoms, such as: „„ Muscle tension or motor restlessness. „„ Sympathetic autonomic overactivity as evidenced by frequent gastrointestinal symptoms such as nausea and/or abdominal distress, heart palpitations, sweating, trembling, shaking, and/or dry mouth. „„ Subjective experience of nervousness, restlessness, or being ‘on edge’. „„ Difficulty concentrating. „„ Irritability. „„ Sleep disturbances (difficulty falling or staying asleep, or restless, unsatisfying sleep). The symptoms are not transient and persist for at least several months, for more days than not. Tabelle 1: Vergleich GAS DSM-5/ICD-11 Anmerkung: links: ein strenges Zeitkriterium („for at least 6 months”) und eine Mindestsymptomanzahl („three (or more) of the following six symptoms”); rechts: ein offeneres Zeitkriterium („persist for at least several months“), eine weichere Formulierung („accompanied by additional characteristic symptoms, such as”); auf einen Symptomcount wird verzichtet 1/2024 Psychotherapeutenjournal 7 A. Hartig

bzw. Nichtvorliegen des somatischen Syndroms angegeben werden konnte. Ähnlich wie das DSM-5 beinhaltet die ICD-11 deutlich mehr derartige Möglichkeiten zur Präzisierung. Um sich beispielsweise der Symptomwirklichkeit einer Person mit einer Schizophrenie diagnostisch genauer zu nähern, können folgende Specifier kombiniert eingesetzt werden: „„ Positivsymptome „„ Negativsymptome „„ Depressive Symptome „„ Manische Symptome „„ Psychomotorische Symptome „„ Kognitive Symptome. In einem weiteren Schritt kann in diesem Fall der Ausprägungsgrad des jeweiligen Specifiers bestimmt werden. Dazu steht folgende Skala zur Verfügung: „„ mild „„ moderat „„ schwer. Die Specifier können mithilfe von postcoordination in den Gesamtcode integriert werden. Wenn eine Person die Grundvorgaben der Schizophrenie erfüllt, und moderate Positivsymptome, moderate Negativsymptome und milde psychomotorische Symptome zeigt, entsteht ein ICD-11-Gesamtcode, der folgendermaßen aussieht: 6A20/6A25.0&XS0T/6A25.1&XS0T/6A25.4&XS5W Aufgeschlüsselt:4 6A20  Schizophrenie (Primärcode bzw. stem code) 6A25.0&XS0T  Positivsymptome & moderate Ausprägung 6A25.1&XS0T  Negativsymptome & moderate Ausprägung 6A25.4&XS5W  Psychomotorische Symptome & milde Ausprägung Zusätzlich kann mitverschlüsselt werden, ob es sich um die erste Schizophrenieepisode handelt. Wenn dies nicht der Fall ist, kann spezifiziert werden, ob der Verlauf entweder durch Störungskontinuität oder von mehreren, abgegrenzten Episoden geprägt ist. Es gibt auch Präzisierungsoptionen, die für verschiedene Störungen gelten. Hierzu zählen zum Beispiel Panikattacken. Wenn Personen etwa eine soziale Angststörung oder eine GAS haben und in diesen Kontexten unter Panikattacken leiden, kann dies mithilfe eines Specifiers kodiert werden. Gleichzeitig ist zu beachten, dass nicht alle Diagnosen im MBpostcoordination: Specifier ND-Kapitel mit Specifiern ausgestattet sind. In diesen Fällen wird pro Störung nur der Primärcode zur Verfügung gestellt. Die intensive Bereitstellung von Specifiern kann als Versuch verstanden werden, ein tendenziell kategoriales System um dimensionale Optionen zu ergänzen (Gaebel et al., 2020). Jedoch bleibt zu vermerken, dass der Kategorienansatz in der ICD-11 trotz der vieldiskutierten Probleme dieser Herangehensweise (Borgogna et al., 2023; Clark et al., 2017) überwiegend aufrechterhalten wird (Clark et al., 2017); eine prominente Ausnahme findet sich – wie erwähnt – in der Neukonzeption der Persönlichkeitsstörungen. Kapitelstruktur Die ICD-10 beruhte auf einem dezimalen Codierungssystem, das die Maximalanzahl der Störungsgruppen des F-Kapitels künstlich beschränkte. Auf diese Weise entstanden heterogene Gruppen wie der F4-Bereich, der sowohl Angststörungen als auch Belastungsstörungen und somatoforme Störungen zusammenfasste. Das alphanumerische Codierungssystem der ICD-11 ermöglicht eine größere Anzahl an Diagnosegruppierungen, deren Zusammensetzung besser durch wissenschaftliche Erkenntnisse und klinische Praktikabilität begründet ist (Reed et al., 2019). Insgesamt beinhaltet das MBDN-Kapitel 21 Gruppen (siehe Tabelle 2). Auffällig ist, dass der F-9-Bereich aus der ICD-10 nicht übernommen wird. Diagnosen, die zuvor bei den Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend gelistet worden sind, werden nun inhaltsbezogen zugeordnet. Das heißt, sie werden zusammen mit den Diagnosen aufgeführt, mit denen sie Symptomüberschneidungen haben (Gozi, 2019; Reed et al., 2019). So wird die Separation Anxiety Disorder der Gruppierung der Anxiety or Fear-Related Disorders zugeteilt. Und die Rumination-Regurgitation Disorder findet bei den Feeding and Eating Disorders ihre Verortung. Störungen, die inhaltlich zu keiner der anderen Gruppierungen passen, erhalten ein eigenes Subkapitel. Enuresis und Enkopresis werden daher als Elimination Disorders neu gruppiert. Generell gilt: Die ICD-11 betont den Lebensspannenansatz (Gozi, 2019); Lebensabschnittsbeschränkungen werden vermieden. Stattdessen finden sich Zusatzinformationen zu alterstypischen Symptombildvariationen, wenn diese empirisch gut belegt sind (Reed et al., 2019). Beispielsweise wird darauf hingewiesen, dass Kinder und Jugendliche im Rahmen einer Schizophrenie eher zu auditiven Halluzinationen mit einer einzelnen (kommentierenden bzw. verurteilenden) Stimme neigen; Erwachsene leiden häufiger unter mehreren (sich unterhaltenden) Stimmen. Auch das F-4-Unterkapitel der ICD-10 wird aufgelöst und die einzelnen Störungen dieses Abschnitts werden zu neuen Diagnosegruppen zusammengefasst. Exemplarisch können die Anxiety or Fear-Related Disorders, die Obsessive-Compulsive or Related Disorders 4 Für weitere Erläuterungen der Codestruktur wird auf folgenden Link verwiesen: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/ aufbau.html. 8 Psychotherapeutenjournal 1/2024 ICD-11: Veränderungen und Trends. Eine Übersicht

oder die Disorders Specifically Associated With Stress genannt werden. Schlafstörungen haben in der ICD-10 noch zu den F-Diagnosen gehört. Im MBND-Kapitel der ICD-11 tauchen sie nicht auf. Stattdessen erhalten sie ein eigenes Kapitel (Reed et al., 2019). Die sexuellen Funktions- und sexuellen Schmerzstörungen sind ebenfalls nicht Teil des MBND-Kapitels. Sie werden in der neugeschaffenen Sektion der Conditions Related to Sexual Health aufgeführt (Velten & Özdemir, 2023). Hier befindet sich auch die neue Diagnose der Gender Incongruence, deren Zentralphänomen die Nichtidentifikation mit dem Zuweisungsgeschlecht ist. Dass Gender Incongruence außerhalb des MBND-Kapitels platziert wird, soll zur Entstigmatisierung beitragen. Es handelt sich um eine Funktionsdiagnose, die nicht zwingend mit Leidensdruck einhergehen muss, dafür aber den Zugang zur Versorgung sichern soll (Stein et al., 2020). Die veralteten ICD-10-Begriffe Geschlechtsidentitätsstörung und Transsexualismus sind gestrichen worden. Ein Trend zeichnet sich ab: KJP und PP werden zukünftig vermehrt von Personen aufgesucht werden, deren Symptomatik außerhalb des MBND-Kapitels zu verorten sein wird. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise die Premenstrual Dysphoric Disorder zu nennen, die primär den Störungen des Urogenitalsystems zugeordnet wird. Auch chronifizierter Schmerz befindet sich außerhalb des MBND-Kapitels und erhält dort eine biopsychosoziale Definition (Barke et al., 2022). Alle in diesem Abschnitt erwähnten ICD-11-Störungen fallen in den Kompetenzbereich von KJP und PP. Ein Fakt, der in der Mental, Behavioural or Neurodevelopmental Disorders (ICD-11: 06) Psychische und Verhaltensstörungen Kapitel V (ICD-10: F00-F99) 6A00-6A06.Z  Neurodevelopmental Disorders F7  Intelligenzminderung F8  Entwicklungsstörungen 6A20-6A2Z  Schizophrenia or Other Primary Psychotic Disorders F2  Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen 6A40-6A4Z  Catatonia F2  Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen 6A60-6A8Z  Mood Disorders F3  Affektive Störungen 6B00-6B0Z  Anxiety or Fear-Related Disorders F4  Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen 6B20-6B2Z  Obsessive-Compulsive or Related Disorders F4  Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen 6B40-6B4Z  Disorders Specifically Associated With Stress F4  Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen 6B60-6B6Z  Dissociative Disorders F4  Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen 6B80-6B8Z  Feeding or Eating Disorders F5  Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren 6C00-6C0Z  Elimination Disorders F9  Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend 6C20-6C2Z  Disorders of Bodily Distress or Bodily Experience F4  Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen 6C40-6C5Z  Disorders Due to Substance Use or Addictive Behaviors F1  Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen F6  Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen 6C70-6C7Z  Impulse Control Disorders F6  Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen 6C90-6C9Z  Disruptive Behaviour or Dissocial Disorders F9  Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend 6D10-6D11.5  Personality Disorders and Related Traits F6  Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen 6D30-6D3Z  Paraphilic Disorders F6  Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen 6D50-6D5Z  Factitious Disorders F6  Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen 6D70-6E0Z  Neurocognitive Disorders F0  Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen 6E20-6E2Z  Mental or Behavioural Disorders Associated With Pregnancy, Childbirth, or the Puerperium F5  Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren 6E40-6E40Z  Psychological or Behavioural Factors Affecting Disorders or Diseases Classified Elsewhere F5  Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren 6E60-6E6Z  Secondary Mental or Behavioural Syndromes Associated With Disorders or Diseases Dlassified Elsewhere keine Korrespondenzgruppierung Tabelle 2: Störungsgruppen im MBND-Kapitel (ICD-11) und Korrespondenzgruppen (ICD-10) 1/2024 Psychotherapeutenjournal 9 A. Hartig

Anpassung der Psychotherapierichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (GB-A) berücksichtigt werden sollte. Neue Störungen (Highlights) Reed (2023) betont die Verschlankung des MBND-Kapitels und nennt eine Reihe an ICD-10-Diagnosen, die nicht mehr in der elften Revision auftauchen. Hierzu gehören die phobische Störung des Kindesalters, die Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters, die Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung, die sexuelle Reifungskrise, die ichdystone Sexualorientierung und die sexuelle Beziehungsstörung. Die Anzahl der Neudiagnosen wird in der Literatur nicht einheitlich wiedergegeben. Laut Reed (2023) beinhaltet das MBNDKapitel 23 neue Störungen. Bei Gaebel und Kerst (2019) sind es 15 (siehe Tabelle 3). Zu diesem Unterschied kann es zum einen durch divergierende Zählweisen kommen. Die Frage, welche Störungen wirklich neu sind, ist zum anderen gar nicht so leicht zu beantworten. Zählen nur diejenigen dazu, die überhaupt keine Korrespondenzdiagnose in der ICD-10 haben? Oder zählen auch diejenigen dazu, die auf Vorgängerstörungen beruhen, aber grundlegend neukonzipiert wurden und eine andere Bezeichnung erhalten haben? Im Gegensatz zu Reed (2023) führen Gaebel und Kerst (2019) die Premenstrual Dysphoric Disorder als neue Diagnose auf. Wie oben angedeutet: Die Premenstrual Dysphoric Disorder hat lediglich einen Sekundärlink im MBNDKapitel (und zwar bei den affektiven Störungen); die Primärverortung liegt bei den Störungen des Urogenitalsystems. Catatonia In der ICD-10 wird katatone Symptomatik im Bereich der Schizophrenie und bei den Störungen mit bekannter organischer Ätiologie genannt. Von wissenschaftlicher Seite aus ist aber klar, dass weitere Störungen – wie Depressionen oder Autismusspektrumstörungen – mit katatonen Beschwerden einhergehen können (Reed et al., 2019; Walther & Strik, 2016). Und deswegen wird Catatonia in der ICD-11 als eigenständige Kategorie mit drei Optionen aufgeführt: (i) Catatonia Associated With Another Mental Disorder, (ii) Catatonia Induced by Substances or Medications und (iii) Secondary Catatonia Syndrome; der dritte Punkt beschreibt Katatonien, die durch Krankheiten verursacht werden, die nicht Teil des MBNDKapitels sind (wie Enzephalitiden). BipolarType II Disorder Der Begriff Bipolar II kommt bereits in der ICD-10 vor. Allerdings nur als Alternativterminus unter Sonstige Bipolare Affektive Störungen und ohne jegliche Störungsbildbeschreibung (Stein et al., 2020). In der ICD-11 erhält Bipolar II einen vollwertigen Status. Kernvoraussetzung für eine Diagnosevergabe ist ein Verlauf mit mindestens einer hypomanischen und mindesten einer depressiven Episode. Die Grenze zur manischen Episode darf in der Vergangenheit nicht überschritten worden sein. Bipolar-II wird in der ICD-11 den Mood Disorders zugeordnet. Body Dysmorphic Disorder Körperdysmorphe Symptomatik wird in der ICD-10 unter der Hypochondrie subsumiert (Reed et al., 2019). In der elften Revision der ICD wird die Body Dysmorphic Disorder nun zu einer unabhängigen Entität, in der Gruppierung der Obsessive Compulsive and Related Disorders. Wie in der Einleitung erwähnt, kann die Diagnose auch dann gestellt werden, wenn keine Einsichtsfähigkeit vorliegt. Ein Drittel oder mehr der betroffenen Personen leiden unter wahnhaften körperdysmorphen Überzeugungen (American Psychiatric Association, 2013), wobei der Einsichtsgrad schwanken kann. Ob Einsicht besteht, kann mithilfe eines Specifiers angegeben werden. Apropos Specifier: In der ICD-11 wird mehrfach auf Muskeldysmorphie als Sonderform hingewiesen. Anders als im DSM-5 fehlt hier aber ein Specifier zur Markierung dieser Sonderform (Reddy et al., 2018). Olfactory Reference Disorder** Die Olfactory Reference Disorder ist gekennzeichnet durch eine anhaltende Beschäftigung mit der Überzeugung, einen übelriechenden oder anstößigen Körper- bzw. Mundgeruch zu verbreiten. Dieser ist für andere nicht oder kaum wahr6A40, 6A41, 6E69, 6A4Z Catatonia 6A61 Bipolar Type II Disorder 6B21 Body Dysmorphic Disorder 6B22 Olfactory Reference Disorder** 6B24 Hoarding Disorder** 6B25.1 Excoriation Disorder 6B41 Complex Post-Traumatic Stress Disorder (cPTSD) 6B42 Prolonged Grief Disorder** 6B82 Binge Eating Disorder 6B83 Avoidant-Restrictive Food Intake Disorder (ARFID)** 6C21 Body Integrity Dysphoria 6C51 Gaming Disorder** 6C72 Compulsive Sexual Behaviour Disorder** 6C73 Intermittent Explosive Disorder GA34.41 Premenstrual Dysphoric Disorder** Tabelle 3: Neue Störungen im MBND-Kapitel der ICD-11 nach Gaebel und Kerst (2019) ** zu den mit Sternchen gekennzeichneten Störungen sind im Psychotherapeutenjournal bereits Fachartikel erschienen, siehe Übersicht auf Seite 14 10 Psychotherapeutenjournal 1/2024 ICD-11: Veränderungen und Trends. Eine Übersicht

nehmbar. Betroffene zeigen exzessive, auf den vermeintlichen Geruch fokussierte Selbstaufmerksamkeit. Oft treten Beziehungsideen auf (z. B. die Überzeugung, dass andere Personen den Geruch bemerken). Mindestens eine der folgenden drei Verhaltensweisen liegt vor: (i) repetitive und exzessive Handlungen (Checkingverhalten oder das Einholen sozialer Rückversicherung), (ii) Versuche, den scheinbaren Geruch zu tarnen oder zu unterdrücken (exemplarisch können der Einsatz von Deos und Parfüms, häufiges Duschen oder die Reduktion des Konsums bestimmter Lebensmittel genannt werden) und (iii) Vermeidung sozialer oder anderer Reizsituationen. Die Olfactory Reference Disorder gehört zu der Gruppierung der Obsessive Compulsive and Related Disorders; mithilfe eines Specifiers kann markiert werden, ob Einsichtsfähigkeit existiert oder nicht. Im DSM-5 wird die Olfactory Reference Disorder nicht aufgeführt. Hoarding Disorder ** Ebenfalls in der Gruppierung der Obsessive Compulsive and Related Disorders findet sich die Hoarding Disorder. Kardinalsymptome der Hoarding Disorder sind das Anhäufen von Besitztümern und die daraus resultierende Überfüllung der eigenen Wohnräume. Sind die Wohnräume aufgeräumt, ist dies nur auf das Eingreifen Dritter (z. B. Familienmitglieder oder Mitarbeitende städtischer Behörden) zurückzuführen. Das Akkumulieren der Besitztümer kann passiv vollzogen werden, indem beispielsweise eingehende Post zum Gesamtbesitz hinzugefügt wird. Oder es kann aktiv vollzogen werden, indem z. B. Gegenstände gekauft oder gestohlen werden. Eine erlebte Aufbewahrungsnotwendigkeit bedingt die Schwierigkeit, sich von Gegenständen zu trennen und trägt so zu der Anhäufung der Besitztümer bei. Auch für die Hoarding Disorder kann durch Einsatz eines Specifiers signalisiert werden, ob Einsichtsfähigkeit vorliegt. So gibt es z. B. Betroffene, die – phasenweise oder überdauernd – von der Sinnhaftigkeit des Aufbewahrens überzeugt sind, sogar wenn der Großteil der Gegenstände objektiv wert- und funktionslos ist. Excoriation Disorder (Skin Picking Disorder) Trichotillomania und Skin Picking Disorder werden in der ICD11 als Body-Focused Repetitive Behaviour Disorders zusammengefasst und gehören ebenfalls zu den Obsessive Compulsive and Related Disorders. Allerdings unterscheiden sie sich in einem Punkt von sämtlichen anderen Störungen in dieser Sektion: Das Symptomverhalten (Haareausreißen bzw. Hautmanipulationen) folgt in den meisten Fällen nicht kognitiven Phänomenen (wie Zwangs- oder Intrusivgedanken), sondern sensorischem Erleben (Reed et al., 2019). Complex Post-Traumatic Stress Disorder (cPTSD) Die cPTSD ist nicht Bestandteil des DSM-5. Stattdessen erweitert das DSM-5 das Profil der posttraumatischen Belastungsstörung und berücksichtigt so ein breites Spektrum potenzieller Symptomkombinationen (Maercker et al., 2022). Daraus resultiert eine hohe Heterogenität der Diagnose, wodurch wiederum die weitere Erforschung der Störung und das Ableiten von Interventionen erschwert werden (Borgogna et al., 2023). Im Kontrast dazu wird die posttraumatische Belastungsstörung in der ICD-11 eng definiert (Wang et al., 2023); als zusätzliche Diagnose wird die cPTSD eingeführt. Voraussetzung für cPTSD ist, dass alle Kernelemente der posttraumatischen Belastungsstörung erfüllt sind. Zudem muss folgende Symptomtriade vorliegen: (i) Affektregulationsschwierigkeiten, (ii) die Überzeugung, besiegt, wertlos oder herabgesetzt zu sein; damit einhergehend traumabezogenes Schuld-, Scham- oder Versagenserleben, (iii) Schwierigkeiten, Beziehungen aufrechtzuerhalten und sich anderen nahe zu fühlen. Die posttraumatische Belastungsstörung und die cPTSD befinden sich in der Gruppierung der Disorders Specifically Associated With Stress. Prolonged Grief Disorder** Die Prolonged Grief Disorder kann vergeben werden, wenn die schwerwiegende Trauerreaktion (s. u.) mindestens sechs Monate lang besteht oder wenn die kulturtypische Normdauer für Trauerphasen deutlich überstiegen wird. Zudem muss die Symptomatik als Folge des Todes eines nahestehenden Menschen auftreten. Zu nahestehenden Menschen zählen u. a. Elternteile, Kinder und Partnerschaftspersonen. Zentrale Merkmale der Prolonged Grief Disorder sind die Sehnsucht nach der verstorbenen Person oder die anhaltende Beschäftigung mit der verstorbenen Person. Begleitsymptom ist u. a. intensiver emotionaler Schmerz. Dieser äußert sich zum Beispiel in Traurigkeit, Schuldgefühlen, Wut, Verleugnung, Schuldzuweisung, Nichtakzeptanz des Todes und in dem Gefühl, einen Teil von sich selbst verloren zu haben. Auch die Unfähigkeit, eine positive Stimmung zu erleben, Affektstarre sowie die Schwierigkeit, sich an sozialen oder anderen Aktivitäten zu beteiligen, können Manifestationen des intensiven emotionalen Schmerzes sein. Die Prolonged Grief Disorder gehört ebenfalls zu der Gruppierung der Disorders Specifically Associated With Stress. In der Erstveröffentlichung des DSM-5 im Jahr 2013 tauchte noch keine vollwertige Trauerdiagnose auf. Im Jahr 2022 kam es zu einem Update des Systems und seitdem findet sich die Prolonged Grief Disorder auch im DSM-5 (Treml et al., 2022). Binge Eating Disorder Die Aufnahme der Binge Eating Disorder in die ICD-11 stützt sich auf einen soliden Forschungsstand (Reed at al., 2019). Die Binge Eating Disorder ist geprägt durch wiederkehrende Essattacken (z. B. mindestens einmal pro Woche über eine Phase von mehreren Monaten). Essattacken stellen einen abgegrenzten Zeitraum (z. B. zwei Stunden) dar, in dem die betroffene Person subjektiv die Kontrolle über das Essen ver- 1/2024 Psychotherapeutenjournal 11 A. Hartig

liert und deutlich mehr oder anders als gewöhnlich isst. Für die Person kann der Kontrollverlust beispielsweise mit dem Eindruck einhergehen, nicht mit dem Essen aufhören zu können. Im Regelfall tritt kein Kompensationsverhalten auf. Häufig besteht ein hoher Belastungsgrad, der sich in Emotionen wie Schuld, Ekel oder Scham zeigen kann. Die Binge Eating Disorder ist der Gruppierung der Feeding or Eating Disorders zugeteilt worden. Avoidant Restrictive Food Intake Disorder (ARFID)** Auch die ARFID gehört zu den Feeding or Eating Disorders. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die Menge oder die Vielfalt der zu sich genommenen Nahrung nicht ausreichen, um einen angemessenen Energie- oder Nährstoffbedarf zu decken. Es kommt zu einem signifikanten Gewichtsverlust, klinisch bedeutsamen Ernährungsdefiziten, zur Abhängigkeit von oralen Nahrungsergänzungsmitteln, zur Sondenernährung oder zu einer anderweitigen Beeinträchtigung der körperlichen Gesundheit. Zudem liegen Funktionseinschränkungen vor. Das Essverhalten ist nicht durch die Beschäftigung mit dem Körpergewicht oder der Körperform motiviert. Body Integrity Dysphoria Die Body Integrity Dysphoria wird in der ICD-11 den Disorders of Bodily Distress or Bodily Experience zugerechnet. Es handelt sich um eine seltene Störung (Kasten, 2023), die in der Adoleszenz beginnt. Kardinalsymptome sind der Wunsch, in bedeutsamer Weise körperlich behindert zu sein, und das Unbehagen bzw. Aversionserleben, das durch die gegenwärtige nichtbehinderte Körperkonfiguration und -funktionalität ausgelöst wird. Betroffene Personen haben oft Amputations- oder Lähmungswünsche; weniger häufig sehnen sie sich danach, multiple Behinderungen gleichzeitig zu haben oder zu erblinden (Kasten, 2023). U. a. muss mindestens eins der folgenden zwei Symptome vorhanden sein: (i) erhebliche Gesundheits- oder Lebensgefährdungen, die aus Versuchen resultieren, die erwünschte Behinderung durch Selbstverletzungen herzustellen, (ii) klare Funktionseinschränkungen, die sich durch die Beschäftigung mit dem Wunsch nach Behinderung entwickeln. Die Body Integrity Dysphoria ist nicht Teil des DSM-5. Gaming Disorder** Neben den Substanzkonsumstörungen führt die ICD-11 im Bereich der Disorders Due to Substance Use or Addictive Behaviours auch Verhaltenssuchtdiagnosen auf. Die Glückspielsucht ist bereits aus früheren Ausgaben der ICD bekannt. Neu ist die Gaming Disorder, die Videospiel- bzw. Computerspielkonsum beschreibt. Für die Vergabe der Diagnose müssen u. a. drei Merkmale vorliegen: (i) Die Fähigkeit, das Spielen zu kontrollieren, ist eingeschränkt (was Auswirkungen auf Faktoren wie Beginn, Häufigkeit, Dauer, Beendigung haben kann), (ii) das Spielen wird zunehmend priorisiert und erhält Vorrang vor anderen Lebensinteressen und täglichen Aktivitäten, (iii) das Spielen wird trotz auftretender Negativkonsequenzen fortgesetzt oder intensiviert. Mithilfe eines Specifiers kann angegeben werden, ob das Spielen eher online oder eher offline stattfindet. Die Aufnahme der Störung in das MBND-Kapitel hat kritische Reaktionen und Pathologisierungsvorwürfe provoziert (Reed, 2023). In einer Delphistudie kamen die befragten Expertisepersonen mehrheitlich zu dem Schluss, dass die ICD-11-Guidelines zur Gaming Disorder eine sichere Diagnosestellung ermöglichen, ohne dass „healthy gaming“ dadurch als krankhaft eingeordnet wird (Castro-Calvo et al., 2021). Die Gaming Disorder beschränkt sich auf Video- und Computerspiele. Für digitalen Mischkonsum (Hawi et al., 2019), exzessive Sozialmediennutzung und andere Formen potenzieller Online-Verhaltenssüchte kommt die Diagnose der Other Specified Disorders Due to Addictive Behaviours in Frage (Brand et al., 2021). Die Forschungsdiagnosen des DSM-5 beinhalten eine Störung, die ausschließlich das Online-Spielen beschreibt. Eine vollwertige Vergleichsdiagnose existiert im DSM-5 hingegen nicht. Compulsive Sexual Behaviour Disorder** Die ICD-11 rechnet die Compulsive Sexual Behaviour Disorder zu den Impulse Control Disorders. Im DSM-5 gibt es keine korrespondierende Diagnose. Das Kernmerkmal der Störung ist das musterhaft auftretende Unvermögen, sexuelle Impulse oder Triebe zu kontrollieren, was zu repetitiven sexuellen Verhaltensweisen führt. U. a. können folgende Symptome vorliegen: (i) Sexuelle Aktivitäten (z. B. Sex mit wechselnden Personen, Selbstbefriedigung, Pornografiekonsum) werden wiederholt vollzogen und rücken so sehr in den Mittelpunkt des Lebens, dass Gesundheit und Körperpflege oder andere Interessen, Aktivitäten und Verantwortlichkeiten vernachlässigt werden, (ii) es kommt zu erfolglosen Bemühungen, das Sexualverhalten zu reduzieren, (iii) die Aktivitäten werden fortgesetzt, obwohl dadurch nachteilige Konsequenzen entstehen, (iv) die Aktivitäten werden fortgesetzt, obwohl dadurch keine sexuelle Gratifikation mehr erzielt wird. Bei Menschen mit frisch veränderten Lebensumständen (z. B. Umzug in eine neue Stadt, Partnerschaftsende), bei Adoleszenten oder bei Menschen mit erhöhtem sexbezogenem Schuld- bzw. Schamempfinden ist diagnostische Vorsicht geboten. Intermittent Explosive Disorder Dass im DSM-5 mehrere Diagnosen vorkommen, zu deren Haupt- oder Nebenmerkmalen Reizbarkeit gehört, wirft Fragen zur Abgrenzbarkeit der einzelnen Störungen auf (Leibenluft et al., im Druck). Und angesichts gestiegener Antipsychotika-Verschreibungsraten im Kinder- und Jugendbereich (Bachmann et al., 2014) kann das Überangebot an Diagnose12 Psychotherapeutenjournal 1/2024 ICD-11: Veränderungen und Trends. Eine Übersicht

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